Kleine Fundstücke und ihre Repliken, wie die „Ungleichen Zwillinge“, weisen Fried Rosenstock als einen Formen-Detektiv aus. Sein Atelier ist also eine Formen-Detektei.
Weshalb spürt der Künstler Objekte, Gebilde, Gestalten auf und lässt sich von ihnen zu seinen Gestaltungen inspirieren, die sich auf den ersten, oft auch auf den zweiten Blick der Identifikation, der Vergleichbarkeit im begrenzten Umfeld alltäglicher Erfahrung entziehen? Hier der Versuch einer Antwort auf diese Frage – und auf andere, die sich daraus ergeben werden.
Frieds Forschung im Reich der Formen ist ein Vorgang, der eine gewisse Analogie verrät zur Entstehung der malerischen Abstraktion. Die Suche einer alternativen Sprache der Kunst war ein Befreiungsakt, ein Ausweg ins Offene aus dem „zähen Schlamm der Erscheinungswelt“, wie Klee die einst obligate Mimesis einmal definierte. Sein Freund und Kollege Kandinsky nannte die abstrakte Malerei „breiter, freier und inhaltsreicher als die gegenständliche“, er behauptete gar, sie gehorche „kosmischen Gesetzen“. Jedenfalls setzte sie die Fantasie frei, gab dem Fühlen und Denken, dem „Geistigen in der Kunst“ den Vortritt vor dem Auge. Das ist auf der Haben-Seite der Entwicklung zu verbuchen. Dem steht jedoch auf dem Soll-Konto ein herber Verlust gegenüber. Er trifft die Künste insgesamt, schloss auch die Literatur ein. Lord Chandos, den Hofmannsthal für sich und seine Dichternot sprechen ließ, beschwor in seinem berühmten Brief die Verarmung der Wörter und seine Sehnsucht, mit dem Herzen denken zu lernen und so eine noch unbekannte Sprache zu finden, in der die stummen Dinge wieder zu ihm sprächen.
Von den Soll-und-Haben-Saldi abgesehen, leidet die Kunst der Maler und der Dichter an einem zweifachen Mangel: an der Armut der verfügbaren Farben die einen, an der Schwäche der Worte die andern, und beide an der Beschränktheit des Papiers und der Leinwand auf ihre zwei Dimensionen. Wie soll man da die stummen Dinge zum sprechen bringen? Die Abkehr von der äußeren Erscheinung und die Hinwendung zum Innenleben der Dinge, kurz Abstraktion genannt, versprach eine Lösung des Problems. Doch die Eroberung des Raums musste die Revolution in der Kunst – denn das war sie – vollenden. Es kam darauf an, die Plastizität, die haptische Qualität unserer Welterfahrung auch auf die Kunst zu übertragen, ohne die Freiheit der Einbildungskraft und des Gestaltungswillens zu verlieren, die das Geschenk der Abstraktion ist.
„Ich arbeite an der Grenze zwischen Leben und Kunst“, bekannte einst der Gestalter abstrakt-gleichnishafter Gebilde im Raum, Robert Rauschenberg. Es ist wahr: Die Rückkehr der Körperlichkeit bedeutet den Einzug des Lebens in die Kunst, ihre Verbrüderung. Das Leben erweist sich jedoch als ein Partner, der die Künstlichkeit der Kunst in Frage stellt. Die Grenze zwischen Kunst und Leben ist labil. Und das Leben, ein unwiderstehlicher Verführer, hat sich die postbürgerliche Kunst des verflossenen Jahrhunderts von neuem dienstbar gemacht. Sie sollte das Medium sein für die Geburt eines Neuen Menschen und für die dauerhafte Verbesserung der Welt. Wäre dieses Ziel, das einst die Aufklärung uns setzte, einmal erreicht, würde Kunst überflüssig werden – Schillers Utopie eines „ästhetischen Staates“ lässt grüßen.
Ein alter Traum – ausgeträumt. Doch er hat Spuren hinterlassen. Auch ganz buchstäbliche. Fried Rosenstock gehört zur verzweigten Familie der Spurensicherer unter den Künstlern. „Spuren sichern“ heißt Leben sichtbar machen. Auch Fried – neben Christian Boltanski, Nikolaus Lang oder Raffael Rheinsberg – tut das auf seine eigene, eigensinnige Weise. Die Skepsis gegenüber einer KUNST – jener, die großgeschrieben sein will und sich noch immer als Komplizin der großen Erzählung der Welt versteht – verbündet sich ihnen mit der Einsicht, dass das Leben reicher an Formen und Gestalten und Rätseln ist als alle Kunst, dass ihre Koalition einen Zugewinn an Erkenntnis, an Wahrheit verspricht. So gewinnt das Auge wieder die Oberhand über die Fantasie. Das Synonym des Künstlers lautet nun Forscher, Entdecker oder eben Detektiv. Es gilt, im Schatzhaus der Welt die stummen Dinge ausfindig zu machen und zum Sprechen zu bringen.
Frieds „Gemini impari“ verführen zum Vergleich mit Giorgio Morandis Stilleben. Außer ihrer malerischen Sensibilität bewundere ich die Insistenz, mit der Morandi immer neue Variationen seiner schlichten Töpfe, Tassen und Flaschen schafft. In den Jahren des europäischen Zivilisationsbruchs 1914 bis 1918, inmitten des nationalistischen Lärms der Selbstzerfleischung, feiert ein Einzelgänger in aller Stille den Reichtum und die Schönheit des grenzenlos Einfachen. Morandis konventionelle Malerei ist eine „Schule der Bescheidenheit“. Und eben darin folgt ihm Fried Rosenstock. Auf seine Weise. In den stillen Formen des italienischen Meisters mag man eine Vorstufe des Gegenständlichen auf dem Weg in die Abstraktion sehen. Dem Nachfolger Rosenstock bleibt diese unverzichtbar, obwohl er ein Augenmensch und dem Leben auf der Spur ist.
Ich will nun zunächst meinerseits einer weiteren Spur folgen und versuchen, mich dem Geheimnis der Bescheidenheit zu nähern.
Dazu bedarf es eines kleinen Umwegs. Wir Zeitgenossen sind Subjekt und Objekt zugleich im Prozess der gegenwärtigen Zeitenwende. Sie ist ein Produkt der Moderne und hat sich – über eine frühe Inkubationsphase – im vergangenen Jahrhundert schubweise dramatisch ausgeweitet und beschleunigt. Ein Ende des Wandels ist nicht in Sicht. Ihr Motor sind die naturwissenschaftlich-technische Revolution und ihre Folgen, die in zunehmendem Maße Ängste und Abwehr hervorrufen. Man wehrt sich gegen die zahlreichen Fehlleistungen und Schattenseiten eines noch immer ungebremsten, angeblichen Fortschritts, und macht als einen seiner Urheber das entfesselte Ich der Aufklärung aus.
Das wachsende „Unbehagen an der Moderne“ (Charles Taylor, 1995) wurde und wird am nachhaltigsten in den Künsten und ihrem Umfeld artikuliert. „Das Ich ist eine Täuschung, ein Schwarm von Empfindungen, Gedanken und Begierden“: diese buddhistische Weisheit verinnerlicht zu haben, hatte Octavio Paz, der kluge Kenner der Künste, bereits den Surrealisten zugeschrieben (Essays 2, 1984). Es überrascht nicht, dass die fernöstliche Vision vom Menschen und der Welt im Westen mehr und mehr Freunde gewinnt. Diese Zuneigung geht einher mit der Skepsis gegenüber der klassischen abendländischen Philosophie. Ihr vielleicht intimster Kern seit der Antike ist der Begriff der „Substanz“. Er bezeichnet die Basis, auf der unser herkömmliches Selbst- und Weltverständnis ruht (substare – darunter stehen). Es steht einerseits für’s Beharren, für den festen Standpunkt, für Identität und Selbst-Besitz, für Selbigkeit in der Sprache der Philosophen. Daraus folgt andererseits die Abgrenzung vom Anderen. Substanz steht also auch für Trennung und Unterscheidung, zielt auf Geschlossenheit gegen Offenheit.
Im Zeitalter von Pluralität, Globalität, Multikulturalität – kurz der Relativierung einst eherner Überzeugungen und Grundsätze – gerät unser weltanschaulicher Baustein Substanz in die Defensive. Auch hier haben die Künste der Avantgardisten bewiesen, dass sie die Nase vorne haben und das geschlossene System des Hegelschen Determinismus dank der Vielfalt und Offenheit ihrer Praxis überwinden konnten.
Ex oriente lux! Vertrauen wir der vergleichenden Wegweisung des Philosophen Byung-Chul Han, der ebenso vertraut ist mit dem westlichen wie dem östlichen Denken. „Der buddhistische Zentralbegriff sûnyatâ (Leer-heit) stellt in vielfacher Hinsicht den Gegenbegriff zur Substanz dar. Die Substanz … ist angefüllt mit sich, mit dem Eigenen. Sûnyatâ stellt dagegen eine Bewegung der Ent-Eignung dar. Sie ent-leert das Seiende, das … sich in sich verschließt. Sie versenkt es in eine Offenheit, in eine offene Weite … Im Feld der Leere verdichtet sich nichts zu einer massiven Präsenz. Nichts beruht allein auf sich … So sind Form und Leere auf derselben Seinsebene angesiedelt. Kein Seinsgefälle trennt die Leere von der Immanenz der erscheinenden Dinge.“ Unsere Vorstellung einer Transzendenz hingegen ist dem fernöstlichen Denken fremd. Und weiter: „Die Leere … stiftet die Freundlichkeit … Nichts zieht sich in ein isoliertes Für-sich zurück … Der Unterschied zwischen Natur und Geist wird aufgehoben … Leere ist Form … Die Leere verhindert nur, dass das Einzelne sich auf sich versteift. Sie löst die substanzhafte Starre … Die Leere bedeutet also keine Negation des Einzelnen. (Vielmehr:) nichts herrscht … Die Seienden wohnen ineinander, ohne sich aufzudrängen, ohne das Andere zu behindern.“ (Philosophie des Zen-Buddhismus).
Die charismatische Weisheit des Ostens fällt keinem Europäer in den Schoß. Doch gerade wir bedürfen eines solchen Kompasses, eines Wegweisers in eine Welt der entinnerlichten Selbstlosigkeit, Offenheit und Empathie, die uns aus dem monadischen Ich-Gefängnis befreien und zu Freunden alles Seienden machen könnte. Wenn nicht alles täuscht, ist uns dieser – weite – Weg bestimmt. Der eine and andere hat sich schon auf den Weg gemacht. Fried Rosenstock hat sich ihnen angeschlossen. Fried, der – in einer seiner Performances – seinen Schatten von sich löst, ohne wie einst Schlemihl seine Seele dem Teufel zu verpfänden. Er lässt uns vielmehr im Hier und Jetzt an einem symbolischen Akt der Befreiung teilhaben. Die Botschaft ist: Wir können uns von unserer dunklen Seite trennen, wenn wir es nur wollen …